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Bei Hans Kühnel zu Gast mit Ingo Schulze

Vieles wurde über das im Frühjahr 2020 erschienene Buch „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze gesagt und geschrieben. Ingo Schulze war für den Leipziger Buchpreis nominiert. Viele große Zeitungen; darunter die FAZ, die Süddeutsche oder Die Zeit haben sehr ausführliche und gute Kritiken geschrieben.

Auch zum politischen Standpunkt des Autors, des Erzählers und der Figuren wurde vieles gesagt, vieles interpretiert und auf aktuelle Deutsche, Ostdeutsche und Dresdner Verhältnisse bezogen.

Das alles soll heute nicht mein Thema sein. Ich habe „Die rechtschaffenen Mörder“ gerade auch deswegen gern gelesen, weil es eine Erzählung über das Lesen, die Bücher und den Leser ist.

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Vor allem aber wollte ich auch eine Liebeserklärung an das Papierbuch schreiben.

Ingo Schulze im Klappentext zu „Die rechtschaffenen Mörder“

Es gibt Dinge, die soll man nicht vermischen: das Lyrische Ich mit dem Autoren oder den Autoren mit dem Erzähler. Oder einen Roman mit einer Biographie. Aber ein bisschen spekulieren und spinnen ist erlaubt. Schlagen wir also das erste Kapitel auf und gehen mit Ingo Schulze auf einen Spaziergang durch Dresden:

Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss. […]
Wer nach Dresden-Blasewitz in die Brucknerstraße kam, das eiserne Gartentor aufschob, an Hecken und Mülltonnen vorbei die Haustür erreichte, […] über die Sandsteinstufen in den ersten Stock stieg und endlich die aluminiumhelle Klingel […] betätigte, erstrebte mehr, nämlich Einlass in das Reich des berühmten Antiquars Norbert Paulini.

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder; S. Fischer Verlag Frankfurt 2020; S. 9 f
Brucknerstraße in Dresden Blasewitz
Brucknerstraße in Blasewitz

Unter den Kennern, den Alteingesessenen, den Buchliebhabern und Dresdner Urgesteinen hat es sich nach Lektüre des Romans schon bald herumgesprochen: Man betritt hier das Reich von Hans-Georg Kühnel. Seine Buchhandlung und Antiquariat „Carl Adlers und Nachf.“ auf der Brucknerstraße 28 war das einzige Privatantiquariat der DDR.

In der Wochenzeitung „Der Sonntag Sachsen“ vom 27.03. sagt Ingo Schulze dann auch „Es gab für den Roman so etwas wie einen Nukleus, ein Antiquariat in Dresden-Blasewitz. Das Antiquariat Carl Adler wurde von Hans-Georg Kühnel geführt. Ich selbst war nur ein, zwei Mal dort …“ (epd)

Meine kleine Spurensuche nach Hans Kühnel beginnt bei Claus Kunze – DEM Antiquar in Dresden. Und schon sitzen wir in seinem kleinen „Büro“ bei Pfeife und Rotwein und blättern in Mario Brändels autobiographischen Fragmenten „Wenn es ans Leben geht“. Das Buch erschien posthum 2014, herausgegeben von seinen Eltern, in einem kleinen Privatdruck von 100 Exemplaren.

Und genauso liebevoll, wie sich der Erzähler in Schulzes Roman an Norbert Paulini, den Antiquar seiner Jugend, erinnert, schreibt Mario Brändel in seinen Buch über den Antiquar Hans-Georg Kühnel:

Hans-Georg Kühnel war ein etwa mittelgroßer schmaler Herr, der stets in einer Art grauen oder blauen, schon recht verschossenen Arbeitskittel gewandet war und den Kunden auf Klingelzeichen hin an der Tür der ersten Etage empfing. Unbekannte wurden nach knapper Begrüßung stets sehr konkret nach ihrem Anliegen gefragt, ungenaue und vage Antworten nicht gern gehört. Die Aussage „man wolle sich umschauen“ führten nicht gerade zu Weiterungen der Herzlichkeit.
[…]
So sehe ich ihn im Arbeitskittel neben dem wuchtigen Schreibtisch stehen, eine Flügeltüre offen und er legt mir zwei oder drei für mich bestimmte Titel vor: „Da habe ich wieder etwas für Sie“. Meinem Interesse und Geschmack war der erfahrene Buchhändler recht bald auf die Spur gekommen und bediente mich in liebenswürdigster Weise. „Dies ist und bleibt ein Haus der Versuchungen“ war ein gern gebrauchter Spruch des Hausherrn.

Mario Brändel: Wenn es ans Leben geht. Autobiographische Fragmente; Privatdruck; S. 41 ff
Mario Brändel: Wenn es ans Leben geht
Mario Brändel: Wenn es ans Leben geht
Mario Brändel. Mitte der 1970er Jahre
Mario Brändel. Mitte der 1970er Jahre; aus „Wenn es ans Leben geht“

Über die Biographie des Autors dieser schönen Zeilen gibt das Nachwort und ein Artikel aus den „Dresdner Neusten Nachrichten“ vom 14.08.2014 Auskunft.

Mario Brändel, am 17. September 1959 in Dresden geboren, war lange Teil der Subkultur – ein wenig anarchistisch und aufmüpfig, Langhaarigkeit ist Protest – man liest viel, diskutiert viel, trinkt viel und gedenkt der Dichter, die nicht unbedingt DDR Bestseller sind. Besonders diese Zeit beschreibt er in seinen autobiographischen Fragmenten. 1984 darf er die DDR verlassen. Ab 1994 betreibt er in München ein Antiquariat. Mario Brändel starb am 26. Januar 2011. Seine Eltern haben das Erscheinen dieses lesenswerten und sympathischen Buches möglich gemacht.

Zurück zum Antiquar Hans Kühnel. Die Pirckheimer-Gesellschaft schreibt über ihr 1994 verstorbenes Mitglied: „Der am 17.2.1927 in Eisenach Geborene war Buchhändler und Antiquar und zudem ein Sammler aus Leidenschaft. […] Er erwarb die 1833 gegründete Carl Adlers Buchhandlung und baute in ihr ein wissenschaftliches Antiquariat auf. […] Die Adlersche Buchhandlung in der Brucknerstraße war auch Ziel vieler Maler. So konnte man dort Otto Dix genauso treffen wie Wilhelm Rudolph oder Hermann Glöckner.“

Weitere schriftliche Berichte und Quellen sind leider Mangelware. Im Katalog 512 des Antiquariats List & Francke aus Meersburg am Bodensee wurde 1994 seine Handbibliothek angeboten. Dort war außerdem Kühnels Text „Aus meinem Leben und Wirken als Buchhändler“ ganz oder in Auszügen abgedruckt. Der Text soll ebenfalls als Privatdruck in Kleinstauflage erschienen sein. Eine Autopsie des Katalogs oder des Drucks war mir bisher leider nicht möglich. Für Hinweise bin ich dankbar.

Inhaltsverzeichnis des Kataloges 512 von List & Francke, 1994; darin große Teile der Handbibliothek des Antiquars Hans-Georg Kühnel

Dies ist der erste Teil der Betrachtungen zum Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Den zweiten Text „Joseph Roth lesen mit Ingo Schulze“ gibt es hier.

BIBLIOGRAPHIE

INGO SCHULZE: Die rechtschaffenen Mörder; S. Fischer Verlag Frankfurt am Main; 2020

MARIO BRÄNDEL: Wenn es ans Leben geht. Autobiographische Fragmente; Herausgeber Dr. G. und S. Dinger; Privatdruck, Neu-Ulm 2014; Auflage 100 Exemplare

Online:
https://www.sonntag-sachsen.de/das-ist-leider-unausrottbar
http://www.loschwitzer-antiquariat.de/
http://www.pirckheimer.org/members/public/hkuehnel.htm
http://swbplus.bsz-bw.de/bsz352913312inh.pdf;jsessionid=9291CC935D7E04B927026A829233C97E?1432680948320
http://swb2.bsz-bw.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=1422913317&INDEXSET=21

6 Antworten auf „Bei Hans Kühnel zu Gast mit Ingo Schulze“

Auch ich kannte noch Hans-Georg Kühnel. Mein Vater half bei ihm manchmal aus. So lernte ich das Antiquariat und Herrn Kühnel bei gelegentlichen Besuchen auch selbst kennen.

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Das ist bestimmt eine schöne Erinnerung. Vielleicht gibt es ja sogar noch noch ein Foto oder eine Buch aus dem Bestand des Antiquars …
Ich finde es wirklich schön und beachtenswert, dass der Roman von Ingo Schulze das Gespräch und die Erinnerung an Hans Kühnel wieder angeregt hat.
Viele Grüße aus Striesen
Udo Geithner

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Für die Literaturfreunde: Franz Fühmann hat dem Hans-Georg Kühnel 1964 eine Traumerzählung gewidmet: „Traum/ Aufgeschrieben für den Faltboot¬fahrer und Antiquar Kühnel“, später veröffentlicht in: Franz Fühmann, Unter den Paranyas. Traumerzählungen und Notate. – Rostock, Hinstorff, 1988.

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Lieber Bücherfreund! Danke vielmals für die Leseempfehlung, das Buch werde ich suchen und lesen.
Bücher über Büchermenschen und all die Verknüpfungen miteinander – das ist ein aufregendes Thema.

PS: ein Kollege gab letztens noch diesen Hinweis:
„Kühnels Antiquariat war nicht das einzige private in der DDR: in Leipzig gab es noch Karl Markert, in Dresden Dienemanns Buchhandlung (hier gibt es auch einen schönen Text von Jens Wonneberger https://www.poetenladen.de/jens-wonneberger-prosa2.htm ) und noch einige andere Kollegen. “

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Lieber Herr Geithner,
ich kann Ihnen auch gern einen Scan des Orig.-Manuskriptes mailen.
Mit herzlichem Gruß aus Augsburg
Matthias Haberzettl.

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